Das Suchen und Finden des jährlichen Tannenbaumes zu Weihnachten - das wiederkehrende Privileg aber auch Last des Familienoberhauptes. Jahrzehntelang musste es ein lebender Baum sein - mit Wurzeln. Weil im Laufe der Jahre unser Garten ein Fichtenwald wurde und wir kaum mehr den Weg ins Haus fanden, mussten wir auf tote Bäume ausweichen. Das war eine große Zäsur in unserer an Überraschung nicht kargen Familiengeschichte. Ein neues Zeitalter bracht an. Ein toter Tannenbaum - daran musste ich die Kinder behutsam gewöhnen. Das konnte nur gelingen, indem ich einen neuen Kult schuf. Also, wenn schon abgeschnitten, dann aber auf keinen Fall einfach so gekauft. Das Abenteuer konnte beginnen. So jagte ich die letzten Tage vor Weihnachten verzweifelt durch die Gegend, auf eine Eingebung hoffend. Überall nur eingepferchte, seelenlose, kümmerliche, schlaffe Tannenbäume vor den Supermärkten. Vielleicht einfach in den Wald fahren und ...???? Nein, das war zu profan. Zu einfach. Das konnte ja jeder. Die Zeit drängte, was machen?, wo ist unser Tannenbaum mit Geschichte, der mit uns das Weihnachtsfest feiern wollte? Ich war sicher, auch er suchte uns. Und da war das Zeichen ... Eine Fichtenschonung, gelegen an einer Durchgangsstraße vor Ettlingen. Dort stand ein Geländewagen, daneben gefällte Bäume. Mein geübtes Jagd-Auge triumphierte. Hier ist eine heiße Spur. Zugänglich nur über einen Radweg, kurvte ich auf den Acker.

Natürlich war ich nicht der einzige Kunde. Zunächst beobachtete ich das Prozedere. Der Verkäufer, ein drahtiger, alter Mann um die 70, gefiel mir gleich. Ein Haudegen mit offenem Blick. Bis heute weiß ich weder Vor- noch Nachnahmen - auch sonst nichts über ihn. Alles was ich weiß, ist das was ich gesehen habe. Denn wir sprachen nur über Tannenbäume. Der Einfachheit halber nenne ich ihn nun den Tannenkarle, was er nicht weiß. Übrigens duze ich ihn jetzt. Erst musste er natürlich einen Test bestehen. Wer mich kennt, weiß, dass nur bei bestandener Prüfung ein Auskommen mit mir möglich ist. ... 3 m hoch, eine serbische Fichte, ganz, aber ganz dicht gewachsen, mit dicken Nadeln. Unten ganz breit. Ja die Proportionen mussten stimmen, wusste ich doch um die kritischen Blicke zu Hause, aber bitte auch die Spitze darf nicht zu dünn sein, wie auf diesen Weihnachtsmärkten, die sicher schon im Sommer geschlagen wurden und meist oben schon ausdünnten. Und bitte nicht zu gerade, denn etwas Eigenwilliges kann es schon sein. Bitte mit Dynamik - eben ein Baum mit Persönlichkeit. Wer nun glaube, Tannenkarle würde sich gelangweilt dem nächsten Kunden widmen, weil der seinen Baum, wie furchtbar, schon stolz in der Hand hielt, um diesen brav zu bezahlten. Nein instinktiv spürte er, da steht ein Tannenbaumprofi vor ihm, auf Augenhöhe, wie er ihn sich schon immer wünschte. Er ließ den Kunden, der schon das Geld in der Hand hatte, einfach stehen. Zielstrebig stapfte er in den letzten Winkel seines Gartens, Ich konnte ihm kaum folgen, auf eine riesengroße Fichte zu, deren Spitze sich schon geteilt hatte.

"Das ist ihr Baum!“ Natürlich war es genau das. was ich suchte. Doch konnte ich das gleich zugestehen? Von Profi zu Profi - ja! - aber, vielleicht etwas grüner, dünner, breiter, lichter, geradliniger, vielleicht der da drüben? Nein unter Profis, und das zeichnet diese eben aus, kommt man zur Sache. "Genau das ist er", sagte ich bestimmt und er wusste es ja auch schon. Er holte die Leiter, denn der Baum war auf einer Höhe von 5 m abzusagen - und schon lag er stolz im Auto. Bei näherem Betrachten hatte er noch unzählige kleine Tannenzapfen. Und , der MutterBaum hatte ja nur seine Spitze verloren, Konnte also weiterwachsen und in 3 Jahren mit dann vielleicht 3 neuen Spitzen mich wieder reizen. Ich hatte großen Erfolg mit meiner "Beute". Damit hatte ich beschlossen, die nächsten Jahre meine Bäume beim Tannenkarle zu erstehen. Ein Jahr ging vorbei. Wieder der letzte Samstag vor Weihnachten...Ich war so entspannt und gelassen wie noch nie - wissend - beim Tannenkarle werde ich fündig. Er hatte Kundschaft, das sah ich von der Ferne. Doch als er mich kommen sah, ließ er alle stehen und kam forsch auf mich zu. "Sie sind doch der, der das Besondere sucht!" Wie konnte er sich noch an mich erinnern? Nein, nicht nur das, er zeigte in die abgelegene Ecke der Schonung, murmelnd, "dort haben Sie im letzten Jahr ihren Baum gefunden. Der mit den 2 Spitzen. Und über den diesjährigen Baum habe ich mir auch schon Gedanken gemacht. Wir müssen aber in meinen anderen Garten. Etwas verwirrt war ich schon. Schaute um mich, ob er mich nicht verwechselte. Nein, er meinte mich. Schon saß er in meinem Jeep und zeigte den Weg in seinen eigentlichen Garten - sein Paradies. Denn wer hat schon in unmittelbarer Nähe von Ettlingen ein solches Kleinod? Von außen unerkennbar, weil vollkommen zugewachsen, nur das Rauschen der nahen Autobahn trübte ein wenig die Stimmung. Spalierbäume, Ackergelände, Scheunen und einer leicht französischen Unaufgeräumtheit. Ach wie liebe ich diese Bilder. Werkzeuge, bunte Kürbisse, Brennholz, Schilder für Niemanden, einfach nur Materialien, die man bestimmt nie weder braucht. Und da war der Baum. Eine 15 m

hohe Fichte. Meinte er es ernst? Natürlich sah mein Kennerblick schon von unten, das ist die versprochene 3-stämmige Spitze. Dicht, voller Tannanzapfen, gesunde, ein wenig verwildert aber mit Proportionen, die etwas Erotisches an sich hatten. Aber wie da drankommen? Tannenkarle begann nun mit seinem routinierten Geschäft. Leiter, Säge, Schnüre, mehrere, da wir die Tannenspitze ja sichern mussten, damit diese im Fallen nicht ihre Spitze verliert. Nach 5 Minuten war alles fertig zum Countdown. "Auf 1, 2, 3 müssen sie die Spitze zur Seite ziehen." Zugegeben war ich etwas aufgeregt. Das war immerhin der erste 3 spitzige Tannenbaum auf einer Höhe von 15 m. Schon rief er "ziehen"..., und die Tannenspitze fiel zentimetergenau zur Seite - alles unversehrt. Das war dann für das Weihnachtsfest die absolute Krönung. Schade, dass dieser dreispitzige Baum auch noch geschmückt wurde. Doch das trübte seine schöne verwegene Einzigartigkeit nicht. Die Familie und der Tannenbaum waren mit mir zufrieden.

Wieder ein Jahr später. Derselbe Ritus. Schon von weitem sah ich ihn in seiner Schonung. "Wie gehts's? "Schlecht, schlecht, schlecht." Ach, was war denn? Tannankarle erzählte mir seine Geschichte vom letzten Jahr, das für uns alle, aber auch für ihn dramatisch war. Ich schätze ihn auf 70 Jahre und er geht auf in der Natur. Nun, was war denn? "Ach ja, ich bin vom Baum gefallen - 6 Meter tief." "und weiter?" "Dann muss ich wohl das Bewusstsein verloren haben. Ich wachte auf und hatte unendliche Schmerzen - aber ich lebte noch. - Aufstehen konnte ich nicht mehr. - Dort, dort hinten ist es passiert. Nichts weit und breit - nur ein entfernter Reitweg, auf dem gelegentlich Reiter zu sehen sind. Es dauerte lang und meine Schmerzen wurden heftiger und die Angst kroch in mich hinein. Wie und wer soll dich hier finden? Endlich hörte ich 2 Reiter in der Ferne. Ich rief wiederum um Hilfe. Es waren, das konnte ich sehen, 2 Mädchen zu Pferde. Sie hielten, zögerten und ritten weiter. Das Ganze war ihnen nicht geheuerlich. "Was nun?" Dann plötzlich - ein Wiehern der Pferde. Sie hatten, welch Wunder, meine Not gespürt. Sie hielten einfach an, wollten nicht weiter. Die Mädchen kamen näher, sahen meine Not, telefonierten mit dem Notdienst und dann kam ganz schnell die Rettung. Der Hubschrauber brachte mich in das Klinikum in Karlsruhe.

Wochenlang lag ich auf der Intensivstation. Schlüsselbein, Milz und vieles andere waren kaputt. Aber keine Sorge, ich habe den diesjährigen Baum schon für Sie im Blick. Wieder fuhren wir in den Garten nebenan. Da stand tatsächlich ein weiterer, riesengroßer Baum mit einer Spitze, die schöner nicht sein konnte. Ohne Zögern stellte er die Leiter an, sägte die Spitze ab, die unversehrt zu meinen Füßen fiel. Als sei nichts geschehen.

Da steht nun der diesjährige geschmückte Tannenbaum vom Tannenkarle. Dieses Mal einspitzig, aber von einer besonderen Schlankheit gesegnet und überfüllt mit Tannenzapfen. Die lebenden Mutterbäume werden uns noch die nächsten Jahre mit dann hoffentlich wieder mehrspitzigen, etwas krummen, Tannenbäumen versorgen. Bäume, die glücklicherweise niemand sonst nimmt. Und dies haben wir den Pferden zu verdanken, die dem Tannenkarle das Leben gerettet haben.

Eine wahre Geschichte.

 

Nachtrag ca. 10 Jahre später:

Unser Vater wurde 80 Jahre alt. An seinem 59. Hochzeitstag musste er sich vom Leben für immer verabschiedet. Den Tannenkarle gibt es so nicht mehr. Sein Enkelsohn bietet jedes Jahr im Dezember in alter Tradition Tannenbäume an. Wer weiß, wie diese Geschichte sich noch entwickelt.